19. & 20. JAHRHUNDERT

Legende

Madge Gill

(1882 London–1961 London)
ABSTRACT
 
 

PROVENIENZ
Henry Boxer Gallery, Outsider & Visionary Art, Richmond, London, Nachlass Madge Gill
Galerie Roche, Bremen
Deutscher Privatbesitz
Europäischer Privatbesitz

AUSSTELLUNG
Madge Gill, Arbeiten auf Papier und Leinwand, Galerie Roche, Bremen 1992
 
Madge Gill ist ohne Zweifel eine der meistbeachteten Outsider-Künstlerinnen. Sie ist in wichtigen Sammlungen der Outsider-Kunst wie der Collection de L’Art Brut in Lausanne und der L’Aracine Collection des LaM – Lille Métropole, musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art brut vertreten.
 
Madge Gill hat zahlreiche Postkartenzeichnungen mit schwarzer Feder oder manchmal auch Bleistift geschaffen. Wie ihre übrigen, oft großformatigen Zeichnungen oder meterlangen Kalikos – Stoffbahnen, für die ihr Sohn eine Mechanik zum Auf- und Abrollen entwickelte – sind die Postkartenzeichnungen von ihrem „Geist“ und spirituellen Führer Myrninerest beeinflusst, den Gill als den eigentlichen Besitzer ihrer Werke ansah.
 
Gills Zeichnungen sind von Horror vacui geprägt. Die Flächen des Blatts werden von unzähligen Variationen einer Frauengestalt mit großen runden Augen, einem Stupsnäschen, Locken und einer Kopfbedeckung bevölkert, die sich häufig in eine abstrakte architektonische Kulisse eingebettet finden.
 
In Gills „Abstracts“ verselbstständigt sich die architektonische Kulisse und entwickelt eine faszinierende Eigendynamik. Die Improvisationen haben einen nahezu halluzinatorischen Charakter. Ihr schier unbegrenzter Formenreichtum spannt sich von ineinander verwobenen Schachbrettmustern über Gitternetzlinien und Treppen, die den Blick des Betrachters in die Tiefe ziehen, bis zu leichten und lichten, floral anmutenden Kreationen.
 
Ein großes Konvolut von Zeichnungen Madge Gills auf persönliche Anfrage.
      
      
Madge Gill
 
1882 London–1961 London. Maude Ethel Eades wuchs als uneheliches Kind bei Mutter und Tante in East Ham, Essex, auf. Im Alter von neun Jahren kam sie ins Waisenhaus; fünf Jahre später wurde sie als Hilfskraft nach Kanada verschifft. 1903 gelang es ihr, nach London zurückzukehren, wo sie bei ihrer Tante Kate unterkam und als Pflegerin in einem Krankenhaus arbeitete. 1907 heiratete sie Tom Gill, den Sohn ihrer Tante, und bekam innerhalb der nächsten sechs Jahre drei Söhne. Der Zweitgeborene starb 1918 an der Spanischen Grippe. 1919 war Madge Gill erneut schwanger, das Mädchen kam jedoch tot zur Welt. Gill erkrankte schwer und verlor infolgedessen ihr linkes Auge. Sie erlitt weitere Schicksalsschläge: Ihr jüngster Sohn Bob wurde bei einem Motoradunfall schwer verletzt. Zwei Jahre lang pflegte sie ihn, sie zeichnete und schrieb an seinem Krankenbett. 1933 starb ihr Mann Tom.
Am 3. März 1920, nur wenige Wochen nach ihrer physischen Genesung, tauchte zum ersten Mal ihr „Geist“ Myrninerest (deutsch vielleicht „meine innere Ruhe“) auf, der sie bis ans Ende ihres Lebens begleiten sollte. Das Erscheinen von Myrninerest löste bei Madge Gill eine Reihe kreativer Tätigkeiten aus: Sie schrieb, strickte, häkelte, webte, spielte Klavier und zeichnete.
Ihr Lebenswerk sammelte Madge Gill in ihrem Haus in East Ham, wobei der gesamte Umfang ihres Schaffens erst nach ihrem Tod 1961 zutage trat. Ein großer Teil ihres Œuvres wurde von ihrem Sohn dem Londoner Stadtteil Newham gestiftet. [1]
 
[1] Martina Weinhart und Max Hollein (Hg.), Weltenwandler / World Transformers. Die Kunst der Outsider / The Art of the Outsiders, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, 24. September 2010–9. Januar 2011, Ostfildern, Hatje Cantz 2010, S. 236.